Literatur laut zu lesen, hat immer einen besonderen Effekt: Man stellt leichter als beim „stummen Lesen“ fest, was an der Sprache gefällt, was merkwürdig oder außergewöhnlich oder auch, was nicht so gelungen ist.
Ganz besonders gilt das für die Jugendromane neueren Datums, die in der lyrischen Form geschrieben sind: Sarah Crossan hat mit Die Sprache des Wassers und dann vor allem Eins („ein Prosa-Langgedicht“, Eva-Maria Magel, faz net13.7.16) diese Form bekannt und die Denkpausen der Erzählerin sowie die Bedeutung der letzten Worte jedes erzählten Abschnitts „hörbar“ gemacht. Steven Herrick hat einen Versroman in viel freierem Rhythmus erzählt (Wir beide wussten, es war was passiert), der beim lauten Lesen oft an die Vorträge von Poetry Slammer*innen erinnert. Jeden der Romane habe ich beim ersten Lesen nicht laut gelesen, was ich heute bedaure.
Elisabeth Steinkellner legt nun mit Esther und Salomon einen Versroman vor, der in starkem Rhythmus und mit kongenial dazu gesetzten Fotografien (Esther) und Zeichnungen (Salomon) eine zarte Liebesgeschichte zwischen 14-Jährigen erzählt. Wer ihn stumm liest, wird in höchstens zwei Stunden 334 Seiten schaffen und die Geschichte der beiden Jugendlichen mit sehr unterschiedlichen Familien und Lebensbedingungen verschlungen haben. Das feine ästhetische Geflecht aus Sprache und gestaltender Kunst aber erschließt sich erst bei ruhigem Hingucken und eben auch Hinhören. Glücklich also die, die ihre innere Lesestimme so weit entwickelt haben und sich die Zeit nehmen (können), die dieser Roman verdient! Das können 12- bis 14-Jährige sein, die viel Leseerfahrung haben. Oder Erwachsene, die sich an der Kunst der Autorin erfreuen.
Buchtipp: Ulrike Erb-May, Lese- und Literaturpädagogin (BVL)
Verlag: Tyrolia Verlag 2021
Foto: © Tyrolia Verlag