You are (not) safe here – Kyrie McCauley

Bücher zu empfehlen ist nie eine objektive Angelegenheit. Sicher, ich habe Kriterien aus langjähriger Studien-, Lese- und Beurteilungserfahrung. Zu einer Faszination durch die Sprache und die Gestaltung der Protagonist*innen muss aber bei mir – genau wie bei der eigentlichen Zielgruppe des Romans von McCauley, den Jugendlichen – ein Interesse am Thema geweckt werden. Optimal geschieht das schon beim ersten Blick auf das Cover und den Klappen- oder Rückseitentext.

Bei Kyrie McCauleys Jugendbuch You are (not) safe here hat es funktioniert – auch und gerade deswegen, weil die Umschlaggestaltung des Taschenbuchs so aufwendig und durchdacht gestaltet ist: schwarz-weiß-rot, in den Farben des Märchens für Tod, Unschuld und Liebe. Die fühlbaren schwarzen Federn erinnern mich an meine morgendlichen Fensteraussichten: 15 bis 30 Krähen pickend auf der Wiese vor dem Haus. Und tagsüber bis in die Abenddämmerung immer wieder Pärchen auf dem Bahnhofsdach, bevor sie sich für die Nacht mit ihrem Schwarm irgendwo in den Bäumen niederlassen. Und dann die erste Seite: „ Auburn Pennsylvania – 2.September – Krähenbestand: 212“. Da ich nie den Schluss eines Buches zuerst lese, habe ich das Dunkle des Romans geahnt, ohne zu wissen: Zum Romanende hin steigert sich die Krähenzahl auf fast 100 000 Vögel, bevor es „Auburn Pennsylvania – 1.Januar – Krähenbestand: 0“ heißt. (S.384)

Was ist das Dunkle, das sich in der Kleinstadt Auburn in den gerafft erzählten vier Monaten abspielt? Es geht um eine Familie, Eltern und drei Töchter, in der die Gewalttätigkeit des Vaters vorzugsweise abends und mitten in der Nacht ausbricht. Erzählerin ist die 17-jährige Leighton, die sich für ihre Schwestern verantwortlich fühlt und mit ihnen Nächte in einem großen Schrank verbringt, um sie vor „ihm“ zu schützen. Die Angst der Mädchen vor dem Krach, der lauten Musik und den Zerstörungen durch den Vater im Haus bestimmt ihr Leben und verstärkt die Bande unter den Schwestern. Gleichzeitig isolieren sie sich von anderen Menschen. Auch die Rufe um Hilfe haben sie aufgegeben, seitdem die Nachbarin in einer schlimmen Nacht ihnen die Tür nicht geöffnet hat. Die Spuren der Gewalttätigkeiten am und im Haus sind am nächsten Tag nicht mehr zu sehen – ein Teil der magischen Komponente des Romans. Ob die Krähen zur Magie gehören, ist nicht gewiss, denn Krähenvögel können Menschengesichter erkennen, soziale Beziehungen pflegen und Gegenstände wegtragen – wie im Roman die Krähe „Joe“, die immer in der Nähe der Schwestern bleibt und ihnen hilft. Interessant gemacht: Nach jedem Ausbruch des Vaters folgt eine gestaltete Seite, die den Anstieg der Krähenzahl benennt – dramaturgisches Element, nicht Beginn eines neuen Kapitels.

In der Schule verliebt sich Leighton in Liam, zugezogen in die Kleinstadt und in einer heilen Familie zuhause. Liam ist aber nicht der Held, der Prinz aus dem Märchen, der Leighton rettet. Sie bleibt die Handelnde, die, die bestimmt, wie weit die Beziehung zu dem jungen Schwarzen gehen soll. Und sie verfolgt letztendlich nach vielen Zweifeln auch ihren Studienwunsch. Damit provoziert sie ein Geschehen, das einerseits den Höhepunkt des Romans markiert, andererseits aber auch sein Ende: Der Vater wird verhaftet und das Haus, das alles bisher aushielt, fällt zusammen. Ein neues Jahr beginnt.

Und die Krähen? Sie verschwinden aus der Stadt.

Ein Roman, der aufgrund seiner Metaphorik, intertextuellen Verweisen und zu füllenden Leerstellen sowie mit dem interessanten Nachwort der Autorin jugendliche Leser*innen zu Recherche und weiterem Lesen anregt. Schade, dass der Titel so plakativ daherkommt.

 

 

Buchtipp: Ulrike Erb-May, Lese- und Literaturpädagogin (BVL)

 

Verlag: dtv 2020
Foto: © dtv